
Auch die anderen verstehen
Wenn wir die Welt verstehen wollen, so dürfen wir sie nicht nur mit unseren Augen betrachten. Mit einem Perspektivwechsel erklärt sich vieles, was uns sonst verborgen bliebe.
von Jens Schachtschneider, Neerstedt erschienen am 08.05.2024Welches sind die Erfolgsfaktoren eines Unternehmers? Cleverness, Führungsstärke, Mut, Teamfähigkeit, Zielstrebigkeit und/oder …? Diese Liste ist sicher nicht vollständig und zudem bei jedem anders. Mir hat eines im Unternehmerleben sehr geholfen: Erfahrungen und Erkenntnisse, die 40 Jahre zurückliegen.
Frühe Erfahrungen helfen im Leben
Bereits als Jugendliche wurden mein älterer Bruder und ich im elterlichen Betrieb eingespannt. Zu meinen Aufgaben zählte es, die Stauden auf den Verkaufstischen zu präsentieren, zu pflegen und Nachbestellungen beim Lieferanten aufzugeben. Dabei sprachen mich Kunden an. So ergaben sich erste Erfahrungen in der Beratung, soweit man diese anfangs als solche bezeichnen konnte. Ich vernahm die Kundenreaktionen. Lob und Kritik für die Qualitäten, die Auswahl, die Beschreibungen und vieles mehr.
Bei den Bestellungen erging es mir ähnlich. Ich freute oder ärgerte mich über schnelle oder verspätete Lieferungen, über gute Qualitäten oder kleine erst kürzlich getopfte Pflanzen. In jungen Jahren prägte mich der Blick aus Sicht der Kunden und des Staudeneinkäufers, ohne zu wissen, wie wertvoll diese Erfahrungen einmal für mich werden sollten.
Später ging es in die Ausbildung zum Baumschulgärtner. Damals waren Omorika populär. In meinem Ausbildungsbetrieb kultivierten wir davon Tausende – viele größer als ich! Beim Aufbinden hatten wir die Wahl: Sauna im Regenzeug oder abends von den Nadeln rote, juckende Arme. Mit dem Spaten wurde ausgestochen, anschließend balliert und auf hohe Hänger gehoben. In den achtziger Jahren gab es kaum Fitnessstudios. Wofür auch?
Während der Ausbildung und in den anschließenden Wanderjahren prägte mich der Blick aus Arbeitnehmersicht. Zugleich reifte der Wunsch einer Selbstständigkeit und ich nahm mir vor: Vergesse nie die Perspektive aus Sicht des Beschäftigten. Ebenso beobachtete ich meine damaligen Chefs. Welche Eigenschaften will ich übernehmen und welche werde ich versuchen zu vermeiden?
Diese Jahre habe ich bis heute vor Augen. Ich will sie nicht missen, selbst nicht die Tage in den Omorika.
Sich in den anderen hineinversetzen können
Mit der Selbstständigkeit musste ich Farbe bekennen. Mit welchen zusätzlichen Dienstleistungen zur Pflanze kann ich beim Kunden punkten und welche sollte ich lassen, weil sie weder wirtschaftlich noch leistbar sind? Ein Tischservice vor Ort mag für den Kunden ebenso wie Kommissionsware sehr attraktiv sein, aber wirtschaftlich wird es sich für uns nicht rechnen. Andere Serviceleistungen sind hingegen mit überschaubarem Aufwand oder gar bei guter Organisation ohne Zusatzkosten machbar. Hiermit kann man sich am Markt positionieren. Für professionelle Marketingkonzepte waren wir viel zu klein. Hierfür suchten wir Partner und gründeten gemeinsam den Stauden Ring.
Die mangelnde Bereitschaft, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen, ist oft Ausgangspunkt für Auseinandersetzungen oder zumindest eine Entfremdung. Dieses gilt für die Politik, das Privatleben, für Geschäftsbeziehungen und im Unternehmen.
„Die mangelnde Bereitschaft, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen, ist oft Ausgangspunkt für Auseinandersetzungen.“ Jens Schachtschneider
In Betrieben geht es um das Miteinander verschiedener Hierarchien, Standorte und Abteilungen. Und natürlich von Chefetage und den Beschäftigten. Wenn größere Altersunterschiede über die Jahre entstehen, so werden die Herausforderungen größer. Daher war Personalführung und -einstellung der erste Bereich, den die Söhne beim Einstieg in unser Unternehmen übernommen haben. Zufall oder wohl eher nicht, die Anzahl der Auszubildenden in unserem Betrieb ist seitdem wieder steigend.
Transparenz motiviert zu verantwortlichem Handeln
Oft wird selbst innerhalb der Familie der Mantel des Schweigens über gewisse Themen ausgebreitet, zum Beispiel zur wirtschaftlichen Lage. Warum? Auch Mitarbeitende haben das Recht, über Eckdaten informiert zu sein. Zugleich stärkt es den Zusammenhalt. Wir haben in den letzten Jahren kräftig investiert und den Betrieb zukunftsweisend aufgestellt. Dabei wollen wir nicht verschweigen, dass damit auch finanzielle Verpflichtungen verbunden sind, die uns in den kommenden Jahren fordern. Offen kommuniziert vermeiden wir den fälschlichen Eindruck, dass der Betrieb im Geld schwimmen würde.
Ich glaube nicht an Zufälle. Jedenfalls nicht, wenn sich Zahlen wie in der Krankheitsstatistik innerhalb weniger Jahre massiv verändern – auch bei uns. Ein schwieriges und zugleich heikles Thema. Sind Mitarbeitende derart krankheitsanfällig geworden? Die finanzielle Last wird zumindest in den ersten sechs Wochen weitgehend vom Unternehmen getragen.
Um die betrieblichen Auswirkungen nachvollziehbar zu machen, genügt ein einfaches Beispiel aus Sicht der Beschäftigten: Wären sie bereit, den Friseur auch dann zu bezahlen, wenn dieser den vereinbarten Termin krankheitsbedingt absagt? Für Chefs ist dieses gegenüber dem Personal selbstverständlich. Daran kann und will ich nichts ändern. Aber wir alle müssen uns der in unserem Land hohen sozialen Standards bewusst sein und mit der gebotenen Obacht handeln. Wir Unternehmer mit einem rücksichtsvollen Verhalten gegenüber erkrankten Beschäftigten. Mitarbeitende, denen unser System ein hohes Maß an Vertrauen schenkt, mit dem es sorgsam umzugehen gilt. Sowie Ärzte, die eine ebenso hohe Verantwortung tragen. Nicht nur gegenüber der Gesundheit ihrer Patienten, sondern ebenso für sehr viel Geld von Unternehmen und unseren Sozialsysteme.
Der keineswegs unterbezahlte Vorstand eines bekannten defizitären Unternehmens gönnt sich wiederholt hohe Bonuszahlungen, die letztlich aus Steuergeld finanziert werden. Sein Verhalten ist ein Ansporn für Arbeitnehmer und Gewerkschaft, für sich ebenso höhere Zuwendungen zu erstreiken, die wiederum für Wirtschaft und Reisende enorme Kosten und Beeinträchtigungen bedeuten.
„Achtsam im Blick haben, was andere fühlen und denken.“
Anders bei uns im Dorf. Der Vorstand des kleinen Sportvereins überlegt selbst bei geringen Beträgen sehr genau, wofür er diese einsetzt. Ein Honorar für Übungsleiter – na klar, für sich selbst niemals. Essen und Getränke der feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier des Vorstands zahlt man selbst beim Wirt. Möglichst unter Beobachtung weiterer Gäste, damit kein Gerede im Dorf aufkommt. Das zeigt eine gute Eigenschaft: Achtsam im Blick haben, was andere fühlen und denken.
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