Respekt der Gründergeneration!
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Ende 2022 verstarb fast 92-jährig unser Vater. Er war einer dieser jungen, mutigen Menschen, die Glück im Unglück hatten und diese Schreckensjahre überlebten. Es wurde nicht nach staatlicher Hilfe geschrien, stattdessen angepackt. Als Flüchtling aus den Ostgebieten hatte es unseren damals 16-jährigen Vater als einziges Familienmitglied nach Holstein und damit in den Westen Deutschlands verschlagen. Geprägt von Zufällen absolvierte er wenig später eine Lehre als Baumschulgärtner, dieser folgten Wanderjahre bis er an einer dieser Stationen „sesshaft" wurde. Er lieh sich etwas Geld und kaufte ein kleines Grundstück. Der Grundstein für den Betrieb war gelegt, der heute von meinen beiden Brüdern geführt wird.
Ein Beispiel von vielen dieser Zeit. Das Leben in beiden Teilen Deutschlands ordnete sich neu. 12 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten suchten in der Bundesrepublik oder DDR eine neue Heimat. Welch eine gigantische Zahl unter schwierigsten Voraussetzungen, schließlich waren die Städte größtenteils zerbombt.
Für uns nachfolgenden Gärtnergenerationen ist es kaum fassbar, wenn die verbliebenen Zeitzeugen von ihren Erlebnissen berichten. Zunächst ging es um das nackte Überleben der neu gegründeten oder auch bereits länger bestehenden Gärtnereien. Unsere Eltern nahmen jede gärtnerische Tätigkeit an: Gräber pflegen, Kränze binden, in den Bauerngärten Obstbäume schneiden, zudem im Betrieb Sommerblumen topfen, Rosen und Obstbäume veredeln sowie Forstpflanzen aufschulen. Der eigene Gemüsegarten sichert die Eigenversorgung.
Nicht viel schnacken – anpacken!
Anfang der Siebzigerjahre entwickelte sich in vielen Gartenbaubetrieben ein bescheidener Wohlstand. Ich erinnere mich an einen ersten Familienurlaub im Harz. Unsere Mutter war glücklich über eine Waschmaschine und wir Kinder freuten uns riesig über den Fernseher in der Wohnstube mit drei Programmen. Natürlich zunächst erst abends, die 24/7 Berieselung kam erst einige Jahre später.
Ganz selbstverständlich wurden wir Kinder im gärtnerischen Arbeitsalltag integriert. Bereits im Grundschulalter legten wir die Rosenwildlinge mit einer langen Latte auf die Seite, putzten die Veredlungsstelle sauber und „verknipsten" sie anschließend, sobald das Auge von unserem Vater oder später von einem Gärtner eingesetzt war.
Wenn Du helfende Hände suchtest, so bedientest Du Dich zunächst mit den Enden Deiner Arme. Wenn diese es nicht mehr schafften, so fanden sich tatkräftige Mitarbeitende im Dorf oder Nachbarort. Sobald die Kinder zur Schule gingen, nahmen die Mütter vormittags Teilzeitjobs an und wurden zur wichtigen Stütze von vielen Gartenbaubetrieben. Ausländische Mitarbeitende gab es kaum, es war die Zeit des „Eisernen Vorhangs". Büroarbeit wurde in den Abendstunden oder an Sonntagen erledigt, tagsüber galt es auch als Chef aktiv im Betrieb mitzuwirken. Die Bezahlung lag etwas über vergleichbaren Jobs zum Beispiel im Einzelhandel. Der Preis für Pflanzen befand sich auf einem soliden Niveau, sodass bei steigender Nachfrage in den Siebzigerjahren sich viele Betriebe positiv entwickeln konnten. Staatliche Investitionsprogramme unterstützen diese Wachstumszeit.
Der Bedarf an Blumen und Pflanzen stieg rasant. Es waren goldene Jahre für den Gartenbau. Erste Topf- und Pflanzmaschinen wurden für den Gartenbau entwickelt. Mit chemischen Pflanzenschutzmitteln wurde das Wildkraut unter Kontrolle gehalten und ebenso Krankheiten und Schädlinge in der zunehmenden Massenproduktion. „Je giftiger umso wirkungsvoller", sind wir heute geneigt zu sagen. Unkräuter, die zuvor mit Gesatop (Simazin) nicht vom Keimen abgehalten wurden, erhielten eine Gramoxone-Behandlung. Ermüdete Böden wurden mit Terabol „entseucht", E 605 war das bekannteste Insektizid, gefährlich nicht nur für Insekten. „Mutige" Gärtner verzichteten weitgehend auf Körperschutz und kaum einer von uns jungen Azubis wollte als Feigling gelten. Ein erstes Umdenken erfolgte, als Wirkstoffe im Brunnenwasser gefunden wurden. Alle genannten Präparate sind längst verboten. Jüngeren Kollegen, die bei diesen Zeilen Gänsehaut bekommen, möchte ich mitgeben, dass diese Sätze uns ein Gefühl für die Reaktionen der nachfolgenden Generation geben, wenn diese in 40 Jahren auf die Umweltsünden unserer heutigen Zeit blicken.
Goldene Jahre des Gartenbaus
Die Unternehmen florierten. Grundlage dafür war die gärtnerische Kompetenz und der große Fleiß. Wer zudem kaufmännisches Geschick bewies, der konnte innerhalb weniger Jahre ein stattliches Unternehmen aufbauen. Während des deutschen Wirtschaftswunders wurden betriebliche Entwicklungen gesellschaftlich gefeiert, brachten diese doch Wohlstand in breite Kreise der Bevölkerung. Der Gemüsegarten verlor bald an Bedeutung, zugleich verringerte sich die gärtnerische Kompetenz der Grundstücksbesitzer. Der Vorgänger unserer heutigen Kirschlorbeerhecken und Sichtzäune hieß Omorika. In einen deutschen Vorzeigegarten gehörte zudem eine Korkenzieherhasel, Rhododendron und Eisbegonien. Die Tätigkeiten im Gartenbau waren körperlich herausfordernd, denn es wurden die Ballen mit dem Spaten gestochen, balliert und die Pflanzen aus langen Reihen herausgetragen.
Der Besuch von Verbandsveranstaltungen zählte zum Pflichtprogramm der Gärtner. Die Säle waren brechend voll. In Fachvorträgen wurde modernes, gärtnerisches Wissen geteilt. Ein Ehrenamt bedeute Ehre, das man pflichtbewusst annahm. Qualitäten wurden definiert und anschließend in Anerkennungsfahrten kontrolliert. Bei Busreisen schaute man den Kollegen in anderen Gartenbauregionen über die Schulter. Gärtnerbälle oder gar Blumenumzüge rundeten den Jahreskalender gesellschaftlich ab. Zweimal jährlich ging es am Wochenende auf regionale Gärtnerbörsen, um Jungpflanzen, Gießgeräte und Trauerkarten zu kaufen und den Kontakt zu Gärtnerkollegen zu pflegen.
Viele der damals großen Namen gibt es längst nicht mehr. Bedeutsame Baumschulen mit umfassenden Katalogen waren Hesse und Timm & Co. Klangvolle Stauden- und Zierpflanzengärtnereien hießen Kayser und Seibert oder Wilhelm Kähler. Andere Gartenbaubetriebe bestehen bis heute, einige bereits über 100 Jahre. Es ist ihnen gelungen, gleich mehrere Generationswechsel erfolgreich zu meistern – welch eine Leistung!
Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Kaum jemand von uns wird sich heute über einen Mangel an Aufgabenstellungen beschweren. Der kritische, gesellschaftliche Blick auf Unternehmen aller Branchen ist alles andere als motivierend, hinzu kommt der Wettbewerb um Mitarbeitende und vieles mehr. Interessant wäre es zu erfahren, wie die Nachkriegsgeneration die heutige Situation im Vergleich zur damaligen Zeit bewertet. Hat man damals auch so viel über dieses und jenes geklagt oder überwog die Freude, dass nach dem Kriegsleid endlich Frieden war und die Dankbarkeit, diese Zeit überlebt zu haben? Innere Zufriedenheit resultiert insbesondere auf erfüllten Erwartungen. Vielleicht haben wir unsere persönliche Messlatte inzwischen derart hoch gelegt, sodass es uns kaum noch möglich ist, diese zu überspringen, was letztlich zu Frust oder gar Depression führt. Unsere Eltern habe ich abends oft erschöpft erlebt, es gab nicht nur eitel Sonnenschein, aber unglücklich oder niedergeschlagen waren sie selten. Bis heute schöpft unsere inzwischen 88-jährige Mutter persönliche Erfüllung, wenn sie in ihrem Tomatenhaus steht und im Frühjahr einige tausend Sämlinge in die Töpfe pikiert. So wie viele andere Senioren in den Betrieben der Kinder in tiefer Zufriedenheit mitwirken.
Unsere Eltern- und Urgroßelterngenerationen haben zumindest körperlich härter gearbeitet, lebten in ungleich einfacheren Verhältnissen und hatten dramatische Schicksale zu verkraften. Zudem haben sie die Grundlagen unserer heutigen Unternehmen geschaffen. Hut ab und unser aller Respekt!
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