Es wird nicht immer mehr gespritzt
Am 14. Oktober 2015 strahlte das ARD-Wirtschaftsmagazin „plusminus“ den Beitrag „Pestizide in unseren Nahrungsmitteln“ aus (nachsehbar im ARD-Medienarchiv, siehe QR-Code unten). Prof. Dr. Andreas von Tiedemann, Professor für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Universität Göttingen, verfasste dazu einen offenen Brief, den wir gerne veröffentlichen (in bearbeiteter Form), weil die Pflanzenschutzmitteldiskussion auch anderswo immer wieder ins Unsachliche abgleitet.
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Pflanzenschutzmittel schützen die für unser Überleben wichtigsten Organismen, nämlich Nutzpflanzen. Diese benötigen den Schutz vor Krankheiten und Schädlingen so, wie wir ihn als Menschen durch Medikamente sicherstellen. Beides, Medikamente und Pflanzenschutzmittel, sind segensreiche Hilfsmittel für unser Überleben und beide können natürlich auch durch Fehlanwendung Schaden machen. Diese Schäden sind bei Medikamenten relativ groß, bei Pflanzenschutzmitteln praktisch nicht nachweisbar. Es gibt in der westlichen Welt in den letzten mindestens 20 Jahren keinen einzigen klinisch belegten Fall einer Gesundheitsbeeinträchtigung durch den Verzehr fachgerecht behandelter Lebensmittel, die Sie in Ihrem Bericht als „vergiftet“ darstellen. Wo also sind die nachweisbaren Opfer dieser jahrelangen Vergiftung der Menschen? Warum ist die Lebenserwartung gerade dort gestiegen, wo die Bevölkerung sich vornehmlich von „gespritzten“ Produkten aus der modernen Landwirtschaft ernährt? Es gibt diese Opfer nicht, weil wir die besten, gesündesten und vielfältigsten Nahrungsmittel haben, die es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hat.
Wenn Greenpeace von der Angst der Menschen vor vergiftetem Essen lebt, weil das ihre Existenz und Spendenwürdigkeit begründet, ist das nachvollziehbar. Welches Interesse aber kann die ARD an derartiger Desinformation haben? Ihr Bericht bestand ausschließlich aus blanken Spekulationen, wilden Assoziationen und Falschinformationen. Wie viele Essstörungen gehen inzwischen auf solche in den Medien permanent verbreiteten Zerrbilder der Wirklichkeit zurück? Haben Sie überlegt, wie infam Ihre unbelegten Behauptungen gegenüber der großen Mehrzahl der Landwirte ist? Sie implizieren, dass diese skrupellos vergiftete Lebensmittel produzieren.
Weshalb stellen Sie gar nicht die Frage, warum Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden und was möglicherweise ihr Benefit ist? Warum fragen Sie nur Personen, die entweder keine wirklichen Experten sind oder eindeutige Interessenvertreter? Es gibt unabhängige Wissenschaftler an Universitäten und in Zulassungsbehörden, die dazu kompetent etwas sagen könnten. Deren Aussagen aber wären, dass es keinerlei Hinweise auf die im Film genannten Kombinationswirkungen mehrerer Wirkstoffe gibt, dass es kaum sein kann, dass Rückstände in Lebensmitteln Krebs auslösen, wenn die Reinwirkstoffe selbst in hohen Dosen im Labor keinerlei solche Wirkungen zeigen. Denn darauf werden Pflanzenschutzmittel intensiv untersucht. Ebenso wie auf neurotoxische, teratogene, mutagene, allergogene Wirkungen. Der leiseste Verdacht, dass ein Wirkstoff hier kritisch ist, führt zum sofortigen Entzug der Zulassung. So sind schon Fungizide verboten worden, bei denen inzwischen klar ist, dass sie doch nicht kanzerogen sind und wieder zugelassen werden können. Es ist geschmacklos, in diesem Zusammenhang einen Alzheimerkranken vorzuführen und ihn ohne jeglichen wissenschaftlichen Beleg mit Pflanzenschutzmitteln in Verbindung zu bringen. Das im Film genannte Carbolineum ist so lange aus dem Verkehr gezogen, dass Ihr Hinweis darauf nur mit der Beurteilung heutiger Autos auf der Basis des VW Käfer vergleichbar ist.
Diese Tendenziösität setzt sich in einigen Falschaussagen fort. Es trifft nicht, zu dass es keine Grenzen für die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln gibt. Diese Menge ist genau in der Zulassung für jedes Mittel und jede Anwendungskultur festgelegt. Es trifft auch nicht zu, dass die EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit) für die Zulassung von „Pestiziden“ zuständig ist, das sind nationale Zulassungsbehörden, die EFSA lässt nur die Wirkstoffe zu. Das mag für den Verbraucher nicht relevant sein, zeigt aber die nachlässige Qualität Ihrer Recherchen. Es trifft nicht zu, dass „immer mehr gespritzt“ wird. Wahr ist, dass die pro Hektar ausgebrachte Wirkstoffmenge seit 1990 erst stark zurückgegangen ist und seit 1995 weitgehend kons-tant bei 1,8 kg/ha liegt. In der gleichen Zeit ist die Zahl der zugelassenen Wirkstoffe von 280 auf unter 250 gesunken. Verändert hat sich in dieser Zeit aber die Toxizität der Wirkstoffe. Diese ist dramatisch zurückgegangen, was man an den sogenannten SYNOPS-Indikatoren sehen kann (SYNOPS ist ein Berechnungsmodell zur quantitativen Abschätzung des Risikopotenzials von Pflanzenschutzmaßnahmen für die Umwelt, Anmerkung der Redaktion). So sind heute über 96 % aller zugelassenen Wirkstoffe keiner Giftklasse mehr zugeordnet, das heißt, sie liegen toxikologisch im Bereich von Kochsalz oder besser. Das ist der Grund, dass die Giftzentrale Nord in Göttingen seit über 20 Jahren keinen Vergiftungsfall mit Pflanzenschutzmitteln mehr hatte. Das sind die Fakten, die Sie ohne Probleme vom BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit), vom JKI (Julius Kühn-Institut) oder vom BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) bekommen können, von denen aber in Ihrem Beitrag nichts vorkam.
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